«Ehen mit blutsverwandten Frauen» – die Zimmerlis und das Phänomen der Vettern-Ehe


Mit dem Ende der Frühen Neuzeit veränderte sich in ganz Europa das Heiratsverhalten: Plötzlich war es Mode, die eigene Cousine zu heiraten. Das zeigt sich auch am Beispiel einer Familie aus der Region Zofingen.

Die Originalversion dieses Artikels erschien am 17. Juli 2024 im Zofinger Tagblatt.

Im Jahr 1927 erhielt der Oltner Historiker Hans Spiegelberg den Auftrag, die Familie Zimmerli zu erforschen. Zwei Jahre später gab er einen zentimeterdicken Papierstapel ab. Seine Arbeit habe einen derartigen Umfang angenommen, dass er noch einen zweiten Teil nachreichen wolle, schrieb der Forscher.

Sein Bericht förderte allerlei Interessantes über die Familie zu Tage: Etwa, dass ein Bernhard Zimmerli 1848 wegen einer Pulverexplosion im Gefecht von Messina gefallen sei. Oder dass ein Jakob Zimmerli im Kohledampf erstickt sei. Oder dass eine Elisabeth Zimmerli 1866 nach Amerika ausgewandert sei und dort ein uneheliches Kind geboren habe.

Die «Ehen mit blutsverwandten Frauen»

Dass die Zimmerlis eine reiche Geschichte aufweisen, ist naheliegend, denn das Geschlecht sehr alt: Ihr Stammvater war ein «H. Cimberlin», der 1265 in Klingnau erfasst ist. Von ihm breitete sich die Familie erst nach Zofingen und dann in die umliegenden Gemeinden aus. 1929 konzentrierte sie sich besonders auf den Nordwesten des Bezirks (etwa Aarburg, Vordemwald, Rothrist etc.).

Den Familiencharakter hielt Spiegelberg in der aus heutiger Sicht fragwürdigen Passage «Rassenerkenntnis» fest. Die Zimmerlis seien «gewerb- und regsam, arbeitsam und friedfertig». Und:  «Im Äussern fällt auf der hohe Wuchs, die langen Kerls, die Schlankheit der meisten, die Gesundheit und das lange Leben.»

Neben solch generellen Informationen stechen in Spiegelbergs Untersuchung die Erläuterungen zu den «Ehen mit blutsverwandten Frauen» hervor. 37 Zimmerli-Männer hätten eine Verwandte geheiratet, schreibt er. Die Tatsache mag erstaunen, die Zimmerlis folgten damit aber einem historischen Phänomen: Der Vetternehe.

Gleich und Gleich gesellt sich gern

Gegen Ende der Frühen Neuzeit veränderte sich das Heiratsverhalten in Europa. Während zuvor die Ehe unter Verwandten kritisch gesehen wurde und sich die Menschen ihre Partner in anderen Sippen suchten, kamen Mitte 18. Jahrhundert neue Normen auf. Familienzweige begannen, ihre Nachkommen untereinander zu verheiraten, die Gatten sollten nun der Herkunftsfamilie möglichst ähnlich sein. So heiratete beispielsweise Charles Darwin seine Cousine.

Die Forschung habe keine einfache und abschliessende Erklärung für das Phänomen der Vetternehe, sagt Historiker Sandro Guzzi-Heeb. Es gebe unterschiedliche Interpretationen. «Eine These ist, dass mit dem Bürgertum neue Oberschichten entstanden, die sich untereinander stabilisieren wollten.» Ein Familienmitglied zu heiraten bedeutete, den Partner und die Schwiegerfamilie genau zu kennen – die Gefahr, dass ein Kandidat oder eine Kandidatin sich nur aus materiellen Gründen in die Familie einheiraten wollte, war so geringer. Ausserdem ermöglichten es Vetternehen, dass Kapital in den Familien blieb und nicht mit neuen Angeheirateten geteilt werden musste. Und wenn sich Verwandte verheirateten, war es einfacher, die eigene Familienkultur zu erhalten.   

PD Dr. Sandro Guzzi-Heeb doziert an der Universität Lausanne. Forschungsschwerpunkt des Historikers ist unter anderem die Schweizer Familien- und Sozialgeschichte, besonders im alpinen Raum. (Bild: zvg / Christian Grossen)

Praxis war schon unter Zeitgenossen umstritten

Spiegelberg weist in seiner Untersuchung auf 37 blutsverwandte Paare hin. Bei genauer Durchsicht finden sich aber rund 45 Einträge, bei denen ein Zimmerli eine Zimmerli geheiratet hat. Bis auf drei Ausnahmen fallen alle Heiraten in die Zeit zwischen 1750 und 1918, dem Ende des Ersten Weltkriegs. Auch damit entsprechen die Zimmerlis dem Phänomen – die Vetternehe verschwand mit dem Ersten Weltkrieg wieder.

Die Folgen, die Verwandtenehen hatten, waren unterschiedlich. «Einige erweiterte Familien häuften tatsächlich Kapital an und gründeten sehr erfolgreiche Unternehmen», weiss Sandro Guzzi-Heeb.

Allerdings sei die Verwandtenehe schon unter Zeitgenossen umstritten gewesen, «seit dem 18. Jahrhundert  gab es ständig Debatten darum». Vetternwirtschaft habe die Gesellschaft damals schon kritisch gesehen. Zudem hat sie über die gesundheitliche Gefahr von Inzucht diskutiert. Grosse Folgen könne das Phänomen diesbezüglich allerdings – zumindest im Bürgertum – nicht gehabt haben, meint Sandro Guzzi-Heeb. Dafür sei die Heiratspraxis zu wenig konsequent gewesen.

Auch Spiegelberg erwähnt keine medizinischen Folgen der Verwandtenehen unter den Zimmerlis. Überhaupt erklärt er sich die «relativ hohe Zahl» an Verwandtenehen damit, dass die Zimmerli-Familie sehr gross sei und Ehen auch unter entfernten Verwandten geschlossen worden seien.

Nach den grossen Erschütterungen des Ersten Weltkrieges verschwand die Verwandtenehe. Das Verhalten der Menschen habe sich geändert; sie wurden mobiler, und auch die Rolle der Frau veränderte sich, meint Sandro Guzzi-Heeb. Spiegelberg erwähnt den grossen Krieg in seiner Untersuchung kaum. Vielleicht hätte er in seinem Nachtrag eine Rolle gespielt; doch ob er diesen jemals ablieferte, ist nicht bekannt.