Norbert Wyssen ist im Suhrental beim Training mit seinen Greifvögel anzutreffen. Nicht alle begegnen ihm dabei freundlich. Wie geht er damit um? Und was ist Falknerei überhaupt?
Die Originalversion dieses Artikels erschien am 9. November 2024 im Zofinger Tagblatt.
Vögel haben keine Zähne. Wanderfalke Arya schlägt ihren Schnabel in die Wachtel, rupft ein Stück davon ab und verschluckt es. Sie schmatzt und schnauft ein bisschen, das Fleisch verschwindet in ihrem Kropf.
Arya hat die Wachtel nicht selbst erlegt. Sie wird von Norbert Wyssen, dem sie gehört, mit Fleischstückchen gefüttert, denn die beiden sind gerade am Trainieren. «Das sind halt die Leckerlis, die diese Tiere mögen», sagt der 58-Jährige und schaut den Falken liebevoll an. Arya schluckt noch ein-, zweimal, dann setzt Norbert Wyssen sie vorsichtig auf eine Stange ins Auto zurück.

Arya mochte sich nicht lange bewegen. Gerade mal drei Minuten lang war sie in der Luft. Danach landete sie in einer Wiese und war so ausser Atem, dass ihr ganzer Körper bebte. «Fliegen ist für die Vögel wie Spitzensport», sagt Norbert Wyssen dazu. Und darum, weil seine Jagdvögel Spitzensportler sind, müssen sie eben auch zum Training. Sie sollen in Form bleiben.
Jagen mit Greifvögeln ist auch nur Jagen
Norbert Wyssen ist seit sechs Jahren hauptberuflich Falkner. Er besitzt eine Falknerei in Othmarsingen mit 14 Greifvögeln, mit denen er «vergrämt». Vergrämen bedeutet das bewusste, langfristige Verscheuchen von Wildtieren. Für Wyssen heisst das, dass er seine Greifvögel an Stellen jagen lässt, an denen Tauben oder Krähen Schaden anrichten. Danach muss er mit ihnen regelmässig vor Ort sein, um die Tiere weiter fernzuhalten. «Vergrämen ist eine Wildtierregulation, wie das sonstige Jagen auch», sagt er. «An einem Flugplatz kann man schädliche Tiere nicht einfach mit einem Gewehr abschiessen. Die Greifvögel können aber auch vergrämen, wenn Menschen vor Ort sind.»
So vergrämt etwa ein britischer Schädlingsbekämpfer Möwen:
Zu seinen Kunden gehören Privatpersonen, Firmen aber auch Gemeinden. «Ich war schon bei einem Bauern, bei dem sich die Tauben im Stall eingenistet hatten. Oder bei einem Lebensmittelproduzenten, dem sie die Ware verunreinigten.» Bedarf an Vergrämungen gibt es genug. Alleine der durch verwilderte Tauben angerichtete Schaden an Gebäuden wird regelmässig, etwa vom Tierschutz beider Basel, auf Millionenhöhe geschätzt. Wegen Saatkrähen musste der Kanton Zürich letztes Jahr Landwirte und -wirtinnen für Ernteschäden in Höhe von fast 100’000 Franken entschädigen. Trotzdem gibt es gemäss der Schweizerischen Falkner-Vereinigung landesweit nur zwischen 10 und 20 aktive «Beizjäger», also Falkner, die mit den Vögeln auch jagen.

aber, dass die Zahl erlegter Vögel insgesamt in den letzten Jahren sank. Der Anteil Tauben daran ist
jedoch relativ stabil und der der Saatkrähe steigt deutlich. Im Aargau dürfen diese Vögel nur
getötet werden, wenn sie Schaden anrichten.
Grafik: Anniina Maurer / Quellen: Kantonale Jagdstatistik AG, Eidgenössische Jagdstatistik
Hat er einen Auftrag, setzt Norbert Wyssen seinen Vögeln eine Lederhaube auf, die sie beruhigt. Dann setzt er sie auf die Stange in seinem Lieferwagen und fährt mit ihnen durch die Schweiz und bis nach Süddeutschland. Liegt kein Auftrag an, fährt Norbert Wyssen seine «Mitarbeiter» zum Training, damit sie sich bewegen können. So auch an diesem Tag.

Eine einseitige Liebe
Norbert Wyssen wohnt in Schlossrued. Darum trainiert er regelmässig im benachbarten Suhrental, gerade etwa bei der ARA in Reitnau. Dort, zwischen Äckern und Feldern, ist es übersichtlich und die Leute kennen ihn. Nach Arya ist Jacko an der Reihe, ein vierjähriger Harris Hawk. Ganz gerade sitzt der grosse, braune Vogel auf Wyssens Hand. Als Betrachter ist man versucht, Stolz in seinem Blick zu lesen. Der Falkner schüttelt die Hand etwas und Jacko schwingt sich auf. Nach einem Zwischenstopp auf dem Auto erhält auch er als Belohnung ein Fleischstückchen.

Dass Greifvögel zu ihren Falknern zurückkehren, ist pure Vertrauenssache. Zwar steckt Norbert Wyssen seinen Vögeln jeweils einen GPS-Sender ins Gefieder, doch vom Wegfliegen abhalten könnte er sie nicht. «Die Greifvögel haben aber kein Interesse daran», sagt er. «Sie wissen, dass sie es bei mir bequem haben – ich führe sie wie ein Diener immer an ihr Futter heran.»

Die Beziehung zwischen Mensch und Greifvogel ist einseitig. Der Mensch kann seine Vögel lieben, ihnen Namen geben, sie umsorgen. Die Vögel dagegen wollen Futter und Sicherheit, egal von wem. «Die Vögel kennen mich schon, sie erkennen meine Stimme und wissen, dass sie mir vertrauen können», sagt Wyssen, «aber, dass ich ihnen Namen gegeben habe, ist mehr für mich als für sie.»

Bevor er Greifvögel hatte, arbeitete Norbert Wyssen mit Hunden. Er war 27 Jahre lang Polizist in der Ostschweiz. Über Jäger in seinem Freundeskreis kam er vor rund dreissig Jahren mit Falknern in Kontakt – und beschloss, die Jagdausbildung und Falknerprüfung abzulegen. Lange Zeit besass er jeweils zwei Greifvögel, bis er sich 2018 entschloss, ganz in die Falknerei einzusteigen. Das hat er bis heute nicht bereut.
Tierschützer fürchten um das Tierwohl
Beizvögel leben nicht wie ihre Artgenossen in Volieren, weil sie sonst, wenn sie Beute sehen, in die Gitter fliegen würden. Tierschutzverbände sehen dies kritisch. Auf peta.de heisst es etwa: «In der Gefangenschaft von Falknereien können die Tiere ihren natürlichen Instinkten nicht selbstbestimmt nachgehen, denn in Falknereien verbringen sie einen Großteil ihres Lebens eingesperrt in beengten Volieren oder festgebunden an Fußfesseln.» Tierschützer werfen der Falknerei ausserdem die Verwendung von Hauben vor – und dass die Tiere nur jagen würden, weil sie vorher hungern müssten.

Bild: zvg / Norbert Wyssen
Norbert Wyssen lässt diese Vorwürfe nicht gelten. «Die Argumentation geht nicht auf. Das Fliegen ist für ein Greifvogel enorm anstrengend. Wenn er ausgehungert ist, ist er gar nicht mehr dazu fähig. Und danach will er sich nicht mehr gross bewegen, sondern zieht sich zurück.» Darum sei es für die Tiere kein Problem, in kleineren Unterständen zu leben oder teilweise angebunden zu sein.
Überhaupt hätten viele Menschen falsche Vorstellungen. So wurde er bei einem seiner letzten Einsätze gegen Krähen von einer Passantin angegangen, die Mitleid mit den Vögeln hatte. «Solche ‹falschen Tierfreunde› meinen, alle Tiere seien Vegetarier oder miteinander befreundet. Aber die Natur ist nicht so. Hier geht es um Leben und Tod.»
«Vögel wollen keine Kunststückchen machen»
Gerade um der Natur gerecht zu werden, sind Norbert Wyssen seine Trainings besonders wichtig. «Meine Vögel sollen frei fliegen, jagen und sich fortpflanzen können. Eine artgerechte Haltung ist entscheidend», sagt er.
Vogelshows oder -parks sieht er daher wie die Tierschützer kritisch. «Vögel wollen keine Kunststückchen machen, sondern jagen.» Ihm bleibe allerdings nicht viel übrig, als solche «Kollegen» zu dulden – und sich selbst an die Regeln und Gesetze zu halten.

Unterdessen hat der Falkner einen dritten Vogel auf der Hand. Andenbussard Amaru hat ein extravagantes, graues Federkleid und beobachtet genau, ob Norbert Wyssen noch ein Fleischstückchen für ihn hat. Zwischendurch flattert er unruhig mit den Flügeln, dreht sich. Norbert Wyssen spricht beruhigend auf ihn ein. «Vögel sind immer noch vergleichsweise wilde Tiere. Sie wollen nicht herumgezeigt oder gestreichelt werden. Mehr als so…» – er fährt mit den Fingerspitzen leicht und rasch über Amarus Schultern – «…berühre ich sie nicht.»
Teil einer Jahrtausende alten Geschichte
Die Wildheit von Greifvögeln lässt sich nicht leugnen. Im Vergleich zu anderen Nutz- und Haustieren leben sie noch nicht lange mit dem Menschen zusammen und müssen immer noch gezähmt, «abgetragen», werden. Lohnt sich dies? Oder sollten Greifvögel lieber in der Natur belassen werden?
Norbert Wyssens Antwort ist klar: «Auch wenn Greifvögel keine Haustiere sind – die Jagd mit ihnen ist tausende Jahre alt und fester Teil der Menschheitsgeschichte. Wir Falkner führen diese Tradition fort.»