In Zofingen musste das Bezirksgericht entscheiden, ob ein um 61 km/h zu schnelles Überholen fahrlässig war oder gar einen Notstand darstellte.
Die Originalversion dieses Artikels erschien am 13. Januar 2024 im Zofinger Tagblatt.
Er habe noch etwas essen wollen vor seinem wichtigen Termin, sagte der Beschuldigte vor Gericht. Darum sei er ungeduldig geworden, als er auf seinem Heimweg Kilometer um Kilometer hinter einem langsamen Auto herschleichen musste. Auf einer geraden Strecke im, für Raser berühmt berüchtigten, Boowald Richtung Vordemwald habe er sich entschieden, zu überholen. Erst während des Manövers habe er aber gemerkt, dass die Strecke bis zur nächsten Kurve knapp ist. Also trat er aufs Gas.
Ein Notstand beim Überholen
Das Bezirksgericht Zofingen musste über einen sichtlich niedergeschlagenen Beschuldigten urteilen. Ion (Name redaktionell geändert), 35 Jahre alt und aus Albanien, wohnt im Bezirk Zofingen. Vor Gericht gab er seinen Fehler zu und entschuldigte sich dafür. 141 km/h hat der Laser gemessen, 61 km/h mehr, als erlaubt gewesen wären.
Die Staatsanwaltschaft klagte Ion darum an, die Verkehrsregeln qualifiziert grob verletzt zu haben. Der Beschuldigte habe vorsätzlich einen Unfall mit Schwerverletzten oder Toten riskiert. Als er bemerkte, dass das Überholen knapp wird, hätte er bremsen und wieder hinter dem langsamen Auto einfädeln müssen. Ion beschleunigte stattdessen. Dafür forderte die Staatsanwaltschaft 15 Monate Freiheitsstrafe auf 2 Jahre bedingt und eine Verbindungsbusse.
Ions Verteidiger warf ein anderes Licht auf den Fall. Der einzige Fehler seines Mandanten sei gewesen, dass er zu spät zum Überholen ansetzte. Als er ihn bemerkte, sei es schon zu spät gewesen: Er hatte sich selbst in eine Notsituation gebracht. In dem Moment hätte sein Mandant nur noch beschleunigen können, die «rettende Handlung», sich schnell wieder auf die rechte Fahrbahn in Sicherheit zu bringen, sei erlaubt. Darum wäre für die Verteidigung auch ein Freispruch möglich gewesen. Gefährliche Situationen im Verkehr seien schliesslich jedem Autofahrer schon einmal passiert, fügte der Verteidiger an.
Freispruch, Busse oder Freiheitsstrafe?
Das Gericht beriet den facettenreichen Fall rund eine Stunde lang. Mit Ion sass «kein typischer Raser» auf der Anklagebank, wie sein Verteidiger sagte. Der reuige Angeklagte hatte in seinem Audi A6 ein Warnsystem installiert, das bei zu hohem Tempo Alarm schlägt. Auch sein einwandfreier Leumund und ein verkehrspsychologisches Gutachten sprachen für ihn. Zudem hat Ion eine Frau und zwei kleine Kinder zu Hause sitzen und ist für seine Arbeit wesentlich auf den Führerschein angewiesen. Das Gesamtgericht musste daher sorgfältig zwischen einem Freispruch, einer Geld- oder (bedingten) Freiheitsstrafe abwägen.
Das Urteil fiel dennoch einstimmig. Der Gerichtspräsident Thomas Meier sprach Ion der qualifiziert groben Verletzung der Verkehrsregeln für schuldig. Als Strafe erhielt er, wie von der Staatsanwaltschaft gefordert, 15 Monate Freiheitsstrafe bedingt mit einer Probezeit von 2 Jahren, dazu kommt eine Verbindungsbusse von 2500 Franken. Ion habe die Strecke gekannt, begründete Thomas Meier das Urteil. Er habe beim Überholen gewusst, dass er auf eine Kurve zufährt. Er hätte das Manöver ausserdem jederzeit abbrechen und problemlos wieder in den Verkehr einfädeln können. Dazu kommt, dass die hohe Gewschwindigkeit gemessen wurde, als Ion bereits wieder auf der rechten Fahrspur war. Überhaupt sei das Überholen müssig gewesen, meinte Thomas Meier. Denn kurz nach der gefährlichen Stelle sei Ion links Richtung Glashütten abgebogen und wäre den Schleicher vor ihm sowieso losgeworden.