Vor mehr als eineinhalb Jahrhunderten verliess Jakob Schärer die Schweiz, um in Südamerika ein neues Leben zu beginnen. Heute versuchen seine Nachkommen, ihm nahe zu sein.
Die Printversion dieses Artikels erschien am 4. Januar 2025 im Zofinger Tagblatt.
Was trieb ihn an? War es die pure Not und Verzweiflung oder Abenteuerlust? Versuchte er, der Enge des Dorfes zu entfliehen oder der Trauer um seine verstorbene Frau? Jakob Schärer verliess 1862 das aargauische Vordemwald, um nach Südamerika zu reisen. Doch warum er das tat, ging vergessen.
«Ich weiss nicht, warum er ging.» Juan Emilio Escobar Schaerer sitzt in seinem Büro in Asunción, Paraguay. Hinter ihm wiegen sich Palmen im Wind, es ist 39 Grad heiss, nachdem am Vortag ein Sturm über das Land fegte. Bald ist Weihnachten. «Ich denke, er war neugierig.»

Alle kennen Jakob Schärer und wissen doch fast nichts
Juan Emilio Escobar Schaerer ist der Urur-Enkel von Jakob Schärer und per Videocall mit der Schweiz verbunden. Gerade gibt der 62-jährige Buchhalter Auskunft über seinen Vorfahren. Wenige kennen Jakob Schärer so gut wie er, der es sich zur Aufgabe machte, das Andenken seines Ahnen zu erhalten. Über einige Antworten muss aber auch er spekulieren.
«Meine Grosstante meinte, er sei ausgewandert, weil er sich berufliche Hoffnungen machte.» Jakob Schärer begleitet Juan Emilio Escobar Schaerer schon immer. Als er ein Kind war, sprachen seine Verwandten von ihm, ohne viel erzählen zu können – der Vorfahr war ihnen entrückt. Anfang 1990er-Jahre begannen Juan Emilio und seine Schwester Celia Escobar Schaerer darum, Ahnenforschung zu betreiben. In einem grossen Buch – Huellas de la familia Schaerer – hielten sie Kurzbiographien von weit über 800 Schaerers fest. Angefangen mit Jakob Schärer:
Jakob Schärer kam 1834 in Vordemwald zu Welt. Er war der einzige Sohn eines Schneiders und Gemeinderats. Sein eigener Beruf ist nicht mehr bekannt, jedoch, dass er blonde Haare und blaue Augen hatte. 1855 heiratete er Karolina Müller. Das Paar bekam drei Kinder, nach der dritten Geburt starb Karolina, das Baby folgte ihr wenige Wochen später. Danach verliess Jakob Schärer Vordemwald für immer.

Grosse Versprechungen und harter Alltag
Wie über seine Beweggründe ist auch über Jakob Schärers Reise nichts bekannt. Nur, dass er in Basel Zwischenhalt machte und dort seine kleinen Kinder im Waisenhaus absetzte. «Das spricht für eine gewisse Skrupellosigkeit», meint Historiker Patrick Kury, der die Schweizer Migrationsgeschichte erforscht – typischerweise seien Familien als Ganzes ausgewandert.
Oft aber auch über Basel. «Basel war der Knotenpunkt», sagt Kury, «von dort reisten die Auswanderer ans Meer. Und Basel war ein Zentrum für die Agenturen, die die Überseepassagen organisierten.»

Jakob Schärer etwa könnte mit Siegrist & Fender gereist sein, einem Unternehmen, das Land in Uruguay kaufte und Europäer suchte, um es zu bestellen. «Das beste Geschäft ist Ackerbau in Uruguay am Rio Plata», liess es in einem Inserat von 1860 verlauten. «Das Klima ist dort so mild, als in dem südlichen Italien, der Boden ausserordentlich fruchtbar und die Ackerbauprodukte gelten viel höhere Preise als bei uns.» Dass ihre Kolonien Streitereien und Dürren plagten, es an landwirtschaftlichem Know-how, später sogar an einem Arzt mangelte, verschwieg das Bankhaus.

Ein umtriebiges Leben, das wenig Zeugnisse hinterliess
Tatsächlich kam Jakob Schärer noch 1862 in der Kolonie «Nueva Helvecia» von Siegrist & Fender in Uruguay an. Dort verliert sich seine Spur. Er taucht in den kommenden Jahren in Argentinien auf und scheint irgendwann während des Tripel-Allianz-Krieges, also bis 1870, nach Paraguay eingewandert zu sein.
«Er war ständig unterwegs», sagt Juan Emilio Escobar Schaerer, «und ging unterschiedlichsten Projekten nach: Er war Kapitän, Industrieller, Kaufmann und Kolonialverwalter, liess Mate-Kraut anbauen, produzierte Tabak und Alkohol.» Ausser einem säuberlich geführten Verwaltungsregister und einem Foto, das einen bärtigen Mann mit langer Nase zeigt, hinterliess Jakob Schärer jedoch kaum Quellen. Darum blieben dem Ahnenforscher viele Fragen offen: «Wie reiste er? Was für einen Kontakt hatte er zu seinen Schweizer Söhnen? Was waren seine Ziele? – ich weiss es nicht.»
Vom Bauerndorf bis in die obersten Schichten Paraguays
Rätselhaft bleibt auch, was Jakob Schärers Erfolg ausmachte. Er stieg innert weniger Jahre in die Elite Paraguays auf – Anfang 1870er-Jahre heiratete er Isabel Vera y Aragón aus einer alteingesessenen paraguayischen Familie, 1881 wurde er vom Präsidenten mit der Gründung einer eigenen Kolonie, San Bernardino, beauftragt.
«Einwanderern stand bei ihrer Ankunft das Schicksal in alle Richtungen offen», sagt Historiker Kury, «sie konnten schnell aufsteigen oder als Arbeitskräfte bis aufs Blut ausgenutzt werden – wenn sie sich etwa für die Schiffsreise verschulden mussten.»

Jakob Schärer kam sicher entgegen, dass er Europäer war. Die südamerikanischen Regierungen förderten die Einwanderung, anstatt Land angestammten indigenen Gruppen zu überlassen. So erhielten etwa Neusiedler in San Bernardino von der Regierung nicht nur Land, sondern auch Saatgut und ein Ochsengespann.
(Quellen aus Huellas de la familia Schaerer / Übersetzung: A. Maurer / Sprecher: M. Maurer)
Nach dem Tripel-Allianz-Krieg war Paraguay zudem verheert: «Das Land war völlig ‹ausgeblutet›», sagt Barbara Potthast, Historikerin für Lateinamerikanische Geschichte an der Universität Köln. «Paraguay hatte etwa die Hälfte seiner Bevölkerung verloren, die alte Elite war grösstenteils gestorben oder diskreditiert. Das machte es Einwanderern leicht, aufzusteigen.» Unter diesen Umständen hat Jakob Schärer sein Glück gemacht und stieg zum einflussreichen Paraguayer auf. Er nannte sich fortan Santiago Schaerer, bekam weitere Kinder und verwaltete San Bernardino. 1895 starb er in Asunción.
Bunte Fähnchen, die das Unerreichbare ersetzen
Es ist ein scheinbar milder Abend. In einer offenen Halle haben sich die Schaerers zu einem Familienfest getroffen. Ein Video zeigt sie in T-Shirts an Tischchen sitzend und ein Fussballspiel ansehend. Zwischen ihnen sind Schweizerfahnen und Kantonswimpel aufgehängt, Käppis mit dem Familienwappen liegen auf den Tischen, Tännchen sind aufgestellt. Sie sollen Vordemwald symbolisieren.
«Die Kantonsfahnen sind hübsch, weil sie so bunt sind», sagt Juan Emilio Escobar Schaerer. Während Jakob Schärer mit der Schweiz abschloss, ist sie für seine Nachkommen sehr wichtig. «Wir sind stolz auf unsere Wurzeln. Das ist es ja, das uns verbindet. Darum bedeutet uns auch unser gemeinsamer Vorfahre so viel.»
Von der Schweiz ist der Familie ausser den Fähnchen nicht viel geblieben: Jakob Schärer wurde 1909 vom Kanton Aargau für tot erklärt, damit ging die Schweizer Staatsbürgerschaft verloren. «Wir müssten heute engen Kontakt zu Schweizern pflegen oder eine der vier Landessprachen beherrschen, um sie wieder beanspruchen zu können», sagt Juan Emilio Escobar Schaerer, «diese Anforderungen sind unerreichbar. Das war für einige Familienmitglieder sehr hart.»

Vielleicht gerade darum ist den Schaerers die patriotische Dekoration so wichtig – sie ist Stellvertretung für das Unerreichbare. Das Gleiche gilt für das gerahmte Bild von «Don Santiago Schaerer», dem Patriarchen, das über jeder Familienfeier thront und den die Zeit von seinen Nachkommen trennt.
Die Schaerers wollen öffentliche Anerkennung

Tatsächlich war Jakob Schärer mit zahlreichen Nachkommen gesegnet. Seine Schweizer Söhne zogen als junge Männer nach Paraguay nach, der ältere war Juan Emilio Escobar Schaerers Urgrossvater. Berühmter als der Urgrossvater war dessen Halbbruder, Eduardo Schaerer. Er war zwischen 1912 und 1916 Präsident Paraguays. Im Laufe der unruhigen Landesgeschichte, zu der Revolutionen und Diktatur gehören, geriet sein Name zeitweise in Verruf. Dazu trugen seine Gegner bei.
«Der Name Schaerer war schlecht konnotiert», sagt Juan Emilio Escobar Schaerer, «eine Zeit lang war es unmöglich, damit Karriere zu machen. Dabei können wir stolz auf unsere Familie sein», und nach einer Pause: «Immerhin haben wir berühmte Journalisten, Tennisspieler und Schönheitsköniginnen hervorgebracht.»
Auch wegen dieser Errungenschaften hat sich die Lage gebessert. Den Schaerers ist es heute möglich, ihre Vorfahren im öffentlichen Raum sichtbar zu machen. So wollen sie ihnen Anerkennung verschaffen. «Jakob Schärer kennt heute in Paraguay kaum jemand, auch nicht in San Bernardino, dessen Gründer er immerhin war», sagt Nachkomme Escobar Schaerer.
San Bernardino ist zu einer Kleinstadt angewachsen. Im Ortsmuseum richteten die Schaerers Jakob Schärer eine eigene Ecke ein und liessen ihm ein Monument errichten. Zur grossen Einweihung waren der Bürgermeister, der Honorarkonsul der Schweizer Botschaft und die Direktorin des Kulturzentrums der Republik als Ehrengäste eingeladen. «Das berührt mich wirklich», sagt Juan Emilio Escobar Schaerer dazu, «dass das Vermächtnis meiner Vorfahren geehrt, die Erinnerung an sie erhalten wird. Sie sollen in einem guten Licht dastehen.»

Der Besuch in Vordemwald dient als eine Zeitreise
Jakob Schärers Geburtshaus in Vordemwald steht noch. Es ist ein geducktes Taglöhnerhaus mit dicken Wänden und erhält regelmässig Besuch aus Übersee. Diesen Herbst etwa kam Christina Schaerer auf ihrer Hochzeitsreise vorbei. Während sie über die enge Treppe ins Obergeschoss steigt und den Kopf einzieht, um ihn nicht gegen einen Balken zu schlagen, stehen ihr Tränen in den Augen. «Es ist einfach wundervoll», sagt sie, «ich bin überwältigt.» Nach der Besichtigung umarmt die 33-Jährige die heutigen Besitzer: «Danke! Danke für alles und dass ihr dieses Haus erhaltet.»

Wie Juan Emilio, ihr entfernter Cousin, ist auch Christina Schaerer mit der Erinnerung an den Ahn aufgewachsen: «Ich denke, er steht für die Werte unserer Familie – mutig sein, etwas Neues aufzubauen und sich in die Gemeinschaft einzubringen. Das haben wir über alle Generationen hinweg gepflegt und darum ist er für uns wohl so wichtig.»
Jakob Schärers Vermächtnis ist die enge Verbindung, die er zwischen Vordemwald und Paraguay hergestellt hat und die seine Nachkommen weiter pflegen. Am liebsten mit Besuchen. In Vordemwald fühlen sich die Schaerers Jakob Schärer besonders nah. Die Zeit scheint für sie stillgestanden zu sein, die Strassen, die Häuser, der Wald sind noch die gleichen, die er einst kannte. Juan Emilio Escobar Schaerer, der als Erster zurückkehrte, beschrieb es in Huellas de la familia Schaerer so:
«Während der Reise schlug mein Herz immer schneller, bis ich das Dorf betrat. […] Es stellte sich heraus, dass die Strassen zwar dieselben wie 1862 waren, die Hausnummern jedoch geändert worden waren – keine Supermärkte, keine Einkaufszentren, nicht einmal ein Busbahnhof, der zum Besuch einlädt, aber dennoch vermittelte das Dorf ein Gefühl von familiärer Geborgenheit und Ruhe. [… Es ist] die Wiege unserer Vorfahren, von wo aus sie einst aufbrachen, um in der Ferne ihr neues Land, Paraguay, zu finden.»
(Übersetzung: A. Maurer / Sprecher: M. Maurer)