In Reitnau gibt es bald ein amerikanisches Weihnachtsfenster zu bestaunen. Und in Amerika eines aus Reitnau. Das ist die Geschichte dahinter.
Die Originalversion dieses Artikels erschien am 1. Dezember 2023 im Zofinger Tagblatt.
«Americas little Switzerland» liegt in Wisconsin. New Glarus, wie die Gemeinde offiziell heisst, zählt rund 2000 Einwohner. Seine Strassen sind rechtwinklig angelegt und seine Hauptattraktion ist das malerische Downtown. Besonders stolz ist das Dorf aber auf eines: seine schweizerischen Wurzeln.
1845 gründeten Schweizer, genauer Glarner, Auswanderer «New Glarus». Wie wichtig das den New-Glarnern immer noch ist, beweisen im Ort Geschäftsnamen wie «The Blanc Chalet» und «Hoesly’s Meat», ein Jodlerclub, «Christkindli Market» oder der «Alphornman Triathlon». Und seit fünf Jahren auch Adventsfenster.
Brauchtum weitergeben
Den vorher im Ort unbekannten Brauch brachte Jacqueline «Jackie» Judd-Scheurer nach New Glarus. Die gelehrte Köchin ist 2007 per Zufall in dem Dorf gelandet, weil dort eine Stelle ausgeschrieben war. In den Staaten lernte sie ihren Mann kennen, und wanderte 2012 endgültig aus. Heute hat das Ehepaar zwei Kinder und Jacqueline Judd-Scheurer arbeitet im einem New-Glarner Geschirrgeschäft.
2018 kam sie auf die Idee, in New Glarus Adventsfenster aufzuhängen: «Ich wollte meinen Kindern diesen Brauch mitgeben», erzählt Jacqueline Judd-Scheurer. «Adventsfenster sind seit meiner eigenen Kindheit einer meiner Lieblingsbräuche, den habe ich hier vermisst.»

Schnell hat Jacqueline Judd-Scheurer im Schweiz-begeisterten New Glarus 24 Aussteller gefunden. Seitdem haben sich die Adventsfenster in der Gemeinde zur beliebten Weihnachtstradition verwandelt. «One of the town’s most favorite annual holiday traditions» heisst es auf der Gemeinde-Website.
New Glarus im Adventsfenster-Fieber
Heute muss Jacqueline Judd-Scheurer ihre Aussteller nicht mehr suchen, sie würden sich von selbst melden: «Ich bekomme das ganze Jahr Rückfragen, wann es denn wieder so weit sei», sagt die Auswanderin, «und es werden jedes Jahr mehr Interessierte». So sei ihre Liste schnell voll und sie müsse Namen für das nächste Jahr vormerken. Den motivierten Vorschlag, an einem Tag gleich mehrere Fenster zu beleuchten, habe sie abgelehnt, meint Jacqueline Judd-Scheurer.

Auch an Besuchern mangelt es nicht, der Rekord liegt bei 120 Personen an einem Abend. Zudem zeigt sich die Begeisterung der New-Glarner darin, dass ihre Adventsfenster zuweilen etwas pompöser ausfallen, als wir es uns hierzulande gewohnt sind: Gerne kann ein Fenster mehrere Etagen einnehmen oder wird von Lichtinstallationen unterstützt. Für die Besucher gibt es Lesungen und Geschenke, wie Chlausensäckli. «Wir wollen die Adventsfenster zum Anlass nehmen, beisammen zu sein, die Enthüllung ist jeweils ein kleiner Event», erklärt Jacqueline Judd-Scheurer.
Transatlantischer Adventsfenster-Tausch
Szenenwechsel: In Reitnau sitzt Jean-Charles Bart an einem Tisch und klebt in Milimeterarbeit Papierstücke zu einem Adventsfenster zusammen. Seit Tagen ist er damit schon beschäftigt, geduldig reiht er Pergaminseiten nach Plan zusammen, so dass wie ein Puzzle ein Bild entsteht.


Jean-Charles Bart ist Buchdrucker und der Vater von Jacqueline Judd-Scheurer. Seine Tochter hatte die Idee, dieses Jahr einen Adventsfenster-Tausch zu organisieren: Ein amerikanisches Fenster soll in Reitnau hängen, ein schweizerisches in New Glarus.
Gesagt getan. Die New-Glarner Bibliothek fertigte die Adventsfenster für Reitnau. Bilder wurden auf Pergaminpapier gedruckt und einem Plan notiert, wie sie wieder zusammenzusetzen sind. Jacqueline Judd-Scheurer brachte die Fenster so in die Schweiz. Im Austausch erhielt sie ein Adventsfenster, das Jean-Charles Bart auf Folie aufmalte. «Zu meinem Fenster gehört eine Geschichte von Tieren, die zusammen Weihnachten feiern», erklärt Jean-Charles Bart, «diese wird dann in New Glarus erzählt».

Die New-Glarner würden sich wahnsinnig auf das Reitnauer Fenster freuen, sagt Jacqueline Judd-Scheurer, denn ihnen sind nicht nur ihre Wurzeln, sondern auch die Beziehungen zur Schweiz wichtig. Jacqueline Judd-Scheurer würde den Adventsfenstertausch darum in Zukunft gerne noch ausbauen. Wenn Schweizer Interesse an einer Tauschaktion im nächsten Jahr hätten, dürften sie sich gerne bei ihr melden (siehe Ende des Artikels). Die Fenster könnten dann bei ihrem nächsten Schweiz-Besuch oder per Post ausgetauscht werden.

Ein Stück Amerika in der Gutenberg Werkstatt
In Reitnau indes hängen Bruno Altherr und Jean-Charles Bart die amerikanischen Fenster, die schon fertig sind, in der Gutenberg Werkstatt auf. Sie werden ab dem 6. Dezember zu bestaunen sein. Die Gutenberg Werkstatt habe sich als Ausstellungsort angeboten, weil hier fünf Fenster in einer Reihe stehen, erklärt Bruno Altherr, Inhaber des Museums. So können die Bilder auch in einer Geschichte verstanden werden, die am 6. vorgetragen und danach neben den Fenstern aufgehängt wird. Mehr soll aber noch nicht verraten werden.

Diese Tage dürfte in New Glarus auch das Schweizer Fenster installiert werden. Es wird die Bibliothek schmücken. Jacqueline Judd-Scheurer ist sich sicher, dass es begeistern wird: «Das wird eine Riesensache, ich freue ich mich!»